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Hochentropie-Materialien Chaos-Kristalle – ein junges Forschungsfeld mit Potenzial

Von Rainer Klose*

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Chaos für Stabilität nutzen. Was widersprüchlich klingt, verfolgen Forscher der Empa in der Schweiz bei ihrer Herstellung spezieller Kristalle. Diese sind durch ihre hohe Entropie besonders robust gegen Hitze und könnten sich als besonders stabile Katalysatoren eignen, etwa für die Methanisierung von CO2.

Am Fließband: In jedem der Tröpfchen des „Tubular Flow Reactor“ entsteht eine andere chemische Mixtur – unter exakt gleichen Rahmenbedingungen.
Am Fließband: In jedem der Tröpfchen des „Tubular Flow Reactor“ entsteht eine andere chemische Mixtur – unter exakt gleichen Rahmenbedingungen.
(Bild: Empa)

Die Natur strebt nach Chaos. Das ist ein tröstlicher Satz, wenn wieder einmal eine Kaffeetasse über der Computertastatur umgestürzt ist und man sich vorstellt, man könnte die zuckrige, milchige Brühe wieder in die Kaffeetasse zurückwünschen. Doch daraus wird nichts, denn die Natur strebt eben nach Chaos. Wissenschaftler haben für diesen Effekt den Begriff der Entropie geprägt – ein Maß für die Unordnung. In den meisten Fällen gilt: Nimmt die Unordnung zu, dann laufen Prozesse spontan ab, und der Rückweg in die zuvor herrschende Ordnung ist versperrt (so wie bei der ausgeschütteten Kaffeetasse). Auch thermische Kraftwerke, die aus einem Stapel Holz oder einem Häufchen Steinkohle eine gewaltige Dampfwolke über ihrem Kühlturm erzeugen, arbeiten getrieben von der Entropie. Die Unordnung nimmt bei vielen Verbrennungsprozessen dramatisch zu – und der Mensch nutzt dies aus und zapft aus dem laufenden Prozess ein bisschen Energie in Form von Elektrizität für seine Zwecke ab.

Der Cocktail-Effekt

Während die Gase aus Verbrennungen eine hohe Entropie haben, gelten Kristalle eher als Gegenteil von Unordnung: In einer Kristallstruktur sind alle Gitterbausteine sauber und auf kleinstmöglichem Volumen dicht nebeneinander sortiert. Umso bizarrer wirkt die Idee, man könne Kristalle durch die Kraft der Entropie stabilisieren und so eine neue Materialklasse erschaffen. Doch genau das versuchen Forscher an der Empa.

Entropie-stabilisierte Materialien sind ein noch junges Forschungsgebiet. Den Anfang machten im Jahr 2004 so genannte Hochentropie-Legierungen, also Gemische von fünf oder mehr Elementen, die sich untereinander vermengen lassen. Wenn die Mischung gelingt und alle Elemente homogen in der Legierung verteilt sind, zeigen sich bisweilen besondere Eigenschaften, die nicht von den einzelnen Zutaten herrühren, sondern von deren Mixtur. Die Wissenschaftler nennen dies „Cocktail-Effekte“.

So stabilisiert Chaos einen Kristall

Chaos im Kristall: Michael Stuer und Amy Knorpp mit dem Modell eines „chaotischen“ Kochsalzkristalls mit fünf Komponenten.
Chaos im Kristall: Michael Stuer und Amy Knorpp mit dem Modell eines „chaotischen“ Kochsalzkristalls mit fünf Komponenten.
(Bild: Empa)

Seit 2015 ist bekannt, dass sich sogar keramische Kristalle durch die „Kraft der Unordnung“ stabilisieren lassen. Die Auswahl der Kristallbausteine nimmt dadurch sogar noch zu: Es passen auch übergroße und zu kleine Bausteine in den Kristall, die ihn im Normalfall zerstören würden. Auf diese Weise gelang es dem Empa-Team bereits neun verschiedene Atome in einen Kristall einzusetzen. Der Vorteil: Selbst, wenn solche Kristalle hohen Temperaturen ausgesetzt sind, bleiben sie stabil – denn eine „Umsortierung“ würde zu größerer Ordnung führen. Das natürliche Streben nach maximaler Unordnung stabilisiert also die ungewöhnliche Kristallstruktur – und damit das gesamte Material – auch unter Extrembedingungen.

Bei bis zu vier Komponenten im Kristall ist alles noch normal, ab fünf Komponenten ändert sich die Welt.

Michael Stuer, Forscher in der Empa-Abteilung High Performance Ceramics

Seit 2019 erforscht Michael Stuer die ungewöhnlichen Kristalle in der Empa-Abteilung High Performance Ceramics. „Diese Materialklasse eröffnet uns eine Vielzahl neuer Chancen. Wir können mithilfe der Entropie zum Beispiel Kristalle stabilisieren, die sonst aufgrund innerer Spannungen zerfallen würden. Und wir können hochaktive Kristalloberflächen schaffen, die es vorher noch nie gab, und nach interessanten Cocktail-Effekten suchen.“

Das Video der Empa gibt einen kurzen Einblick in die Forschung von Amy Knorpp und Michael Stuer zur Hochentropie-Keramiken:

Ansatzpunkte für die Katalyse

Bei der Erforschung im noch jungen Feld der Hochentropie-Kristalle ist systematisches Vorgehen, Fachkenntnis und eine gute Portion Beharrlichkeit gefragt. Wo fängt man an? Welche Richtung schlägt man ein? „Es gibt im Moment noch keine zusammenhängende Expertise, noch keinen vollständigen Überblick über dieses neue Forschungsgebiet“, sagt Stuer. „Verschiedene Forschungsgruppen auf der Welt arbeiten an begrenzten Projekten. So entstehen einzelne Inseln des Wissens, die im Laufe der nächsten Jahre zusammenwachsen müssen.“

Stuer und seine Kollegin Amy Knorpp konzentrieren sich auf katalytisch aktive Materialien. Bei der chemischen Reaktion, für die sie sich interessieren, geht es um die Reaktion von CO2 und Wasserstoff zu Methan. Aus einem Treibhausgas soll also ein nachhaltiger, speicherbarer Brennstoff werden. „Wir wissen, dass CO2-Moleküle auf bestimmten Oberflächen besonders gut adsorbiert werden und die gewünschte Reaktion dann leichter und schneller abläuft“, sagt Kristallspezialistin Knorpp. „Nun versuchen wir entropische Kristalle herzustellen, an deren Oberflächen solche hochaktiven Bereiche existieren.“

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Reaktionen am laufenden Band

Michael Stuer und Amy Knorpp produzieren ihre Kristallmischungen mit einem „Tubular Flow Reactor“
Michael Stuer und Amy Knorpp produzieren ihre Kristallmischungen mit einem „Tubular Flow Reactor“
(Bild: Empa)

Um rascher voranzukommen haben die Forscher mithilfe der Empa-Werkstatt ein spezielles Synthesegerät gebaut, in dem zahlreiche chemische Mixturen wie am Fließband nacheinander getestet werden können. Im „Tubular Flow Reactor“ laufen kleine Bläschen durch einen Schlauch, in denen die jeweilige Reaktion abläuft. Am Ende werden die Bläschen entleert, und das darin enthaltene Pulver kann weiterverarbeitet werden.

„Der ‚Tubular Flow Reactor‘ hat einen riesigen Vorteil für uns: Alle Bläschen sind gleich groß, darum haben wir für unsere Synthesen immer ideale und gleichbleibende Randbedingungen“, erläutert Stuer. „Falls wir von einer besonders vielversprechenden Mischung größere Mengen brauchen, produzieren wir einfach mehrere Bläschen mit der gleichen Mixtur nacheinander.“

Lösen Chaos-Kristalle das Problem der Katalysator-Vergiftung?

Aus der dem Vorprodukt-Pulver werden durch verschiedene Trocknungsverfahren feine Kristalle der gewünschten Größe und Form. Für ihr erstes, großes Projekt haben sich die Empa-Forscher mit Kollegen vom Paul-Scherrer-Institut (PSI) zusammengetan. Diese untersuchen in einem Versuchsreaktor die mögliche Methanisierung von CO2. Das CO2 stammt dabei aus Biogasanlagen und Klärwerken. Die PSI-Forscher haben bereits Erfahrungen mit verschiedenen Katalysatoren gesammelt und stoßen immer wieder auf ein Problem: Der Katalysator, an dessen Oberfläche die chemische Reaktion stattfindet, wird mit der Zeit schwächer. Das liegt daran, dass Schwefel-Anteile im Biogas die Oberfläche verschmutzen (Vergiftung des Katalysators) oder dass sich bei hohen Temperaturen die Katalysator-Oberflächen chemisch umwandeln.

Hier suchen die Forscher nach einer neuen Lösung mithilfe von entropischen Kristallen; denn diese sortieren sich auch bei hohen Temperaturen nicht um – stabilisiert durch ihre Entropie. „Wir hegen die Hoffnung, dass unsere neuartigen, entropischen Kristalle bei dem Prozess länger durchhalten und möglicherweise gegen Schwefel-Verschmutzungen unempfindlicher sind“, sagt Stuer.

Originalpublaikation: A. J. Knorpp, J. G. Bell, S. Huangfu, M. Stuer; From Synthesis to Microstructure: Engineering the High-entropy Ceramic Materials of the Future; Chimia 2022, 76, 212; DOI: 10.2533/chimia.2022.212.

* R. Klose, EMPA Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt, 8600 Dübendorf/Schweiz

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